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Ende des Jahres 1893 kam es zu einem tödlichen Arbeitsunfall in einem Dippe-Wirtschaftsgebäude in Halberstadt. Unser IG-Mitglied Steffi Pisu hat uns die Dokumente der Anklageschrift gegen den Kunst- und Handelsgärtner Fritz Dippe und den Ökonomie-Inspektor Christian Palm (in Sütterlinschrift) nun zugänglich gemacht.

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Bei allen Eingaben

Ist das nachstehende

Aktenzeichen anzugeben

J2752/93

In der Strafsache

gegen

den Kunst- und Handelsgärtner Fritz Dippe in

Quedlinburg u. Gen.

wegen fahrlässiger Tödtung eines Menschen und Übertretung

i.S. § 36/7 StrGB

werden Sie auf Anordnung des Vorsitzenden der Strafkammer des Königlichen Land-

gerichts hierselbst unter Mittheilung der Anklageschrift aufgefordert, sich innerhalb

einer Frist von 7 Tagen zu erklären, ob Sie

---eine Voruntersuchung oder die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor der

Hauptverhandlung –

beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorbringen wollen.

Halberstadt, den 2 ten Maerz 1894.

gez. Schroeder

Gerichtsschreiber des Königlichen Landsgerichts.

An den Kunst- und Handelsgärtner                      

Herrn Fritz Dippe                                       beglaubigt                              

 In                                           Halberstadt, den 8. Maerz 1894.       

Quedlinburg                                               Schröder

III 1461                                            Gerichtsschreiber d. kgl. Landgerichts

Zust. m. Beurk.

 

Abschrift

Anklageschrift

der Staatsanwaltschaft bei dem königlichen

Landgericht zu Halberstadt

Der Kunst- und Handelsgärtner Fritz Dippe zu Quedlinburg, geboren daselbst am 17. Dezember 1855, evangelisch, verheirathet, vermögend, Premierleutnant der Landwehrkavallerie, Inhaber der Landesverdienstauszeichnung, unbestraft (Bl. 16)

Der Oekonomie-Inspector Christian Palm zu Halberstadt, geboren am 1. Mai 1837 zu Timmenrode in Braunschweig, evangelisch, verheirathet, vermögend, außerhalb der Militärverhältnisse stehen, unbestraft (Bl. 9) werden angeklagt,

und zwar jeder von beiden im Dezember 1893 zu Halberstadt

An Orten, an welchen Menschen verkehren, Öffnungen dergestalt unverschlossen gelassen zu haben, daß daraus Gefahr für Andere entstehen konnte

Durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht zu haben und zwar indem sie die Aufmerksamkeit, zu der sie vermöge ihres Berufes besonders verpflichtet waren, aus den Augen setzten

Vergehen beziehungsweise Übertretung gegen §222, 367-77, StrGB

                                      Sachverhalt.

Am 5. Dezember 1893 hatte die Wittwe Holland, welche im Dienste der Firma Gebr. Dippe stand, auf einen Heuboden eines der Halberstädter Wirtschaftsgebäude der genannten Firma feinen Rübensamen nach einer daselbst befindlichen Fall-Luke zu tragen, wo er durch einen bis unten hinreichenden langen Sack auf eine Göpel geworfen wurde. Das Herantragen geschah in einem leinenen Laken. Bei Verrichtung dieser Arbeit trat die Holland fehl und stürzte durch die Luke 2 Stock tief hinab. Die Holland, welche schwer verletzt war, wurde nach dem Krankenhause transportiert, wo sie am 7. Dezember infolge der durch den Fall erlittenen Verletzung, nämlich eine Halswirbelbruchs gestorben ist.

Die Luke hatte zur Zeit des Unfalls keine Schutzvorrichtung, die auf den Böden des Dipp’schen Etablissements befindlichen gleichwertigen Öffnungen sind erst nach der …..zeilichen Abnahme auf ausdrückliche Anordnung des Mitangeklagten Dippe angelegt.

Derselbe führt zu seiner Entschuldigung an, daß eine derartige Anlage von Luken in landwirtschaftlichen Betrieben allgemein Gebrauch wären und daß Schutzvorrichtungen bei den denselben niemals getroffen würden weil dadurch der Betrieb sehr gestört sei. Aus diesem Grunde sowie auch deshalb, weil ein Dippe …., nach seiner  Anordnung bei Benutzung der Luken ein Beamter oder Aufseher die dabei beschäftigten Leute hat warnen müssen, der gefährlichen Stelle zu nahe zu kommen, glaubt er sich einer Fahrlässigkeit nicht schuldig gemacht zu haben, behauptet auch ferner, daß falls wirklich, was er verneint, etwas Strafbares vorliegen sollte, der Inspector allein verantwortlich sei, da dieser völlig selbständig die Halberstädter Wirtschaft der Firma, wenn dies auch unter seiner Oberaufsicht stehe.

Mag nun, wie behauptet wird, die Holland an dem Tage, wo der Unfall passierte, gewarnt sein, mag sie dieser ausdrücklichen Warnung zuwidergehandelt oder durch ihre Kurzsichtigkeit sich die tödliche Verletzung zugezogen haben, so ist dies unerheblich, denn der §222 StrGB erfordert nicht, daß der Tod lediglich durch Fahrlässigkeit des Thäters verursacht sei, insbesondere schließt eine konkurrierende Fahrlässigkeit des Getöteten den Kausal…. nicht aus. (Entsch. des Reichsger. St.S.II vom 2.Mai 1892)

Unerheblich ist auch der Hinweis des Mitangeklagten Dippe darauf, daß in landwirtschaftlichen Betrieben Schutzvorrichtungen bei derartigen Luken nirgends angebracht seien und den Betrieb stören würden, sollte Letzteres auch der Fall sein, so befreite dies doch nicht von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit dafür, daß bei Nichtanbringung einer Schutzvorrichtung der Tod eines Menschen eintreten und dies als mögliche Folge der Unterlassung der Anbringung einer Schutzvorrichtung vorausgesehen werden konnte.

Die Art des Betriebes eines Gewerbes muss sich der Rücksicht auf Menschenleben unterordnen und darf nicht in einer Weise geschehen, daß sie mit dem Strafgesetz in Kollision kommt (Entsch. des Reichsger. I St.Sen. Urth. v. 5. Dezember 1883), daß außerdem eine Schutzvorrichtung möglich ist, geht zu Genüge daraus hervor, daß jetzt eine solche besteht.

Es unterliegt hierauf keinem Zweifel, daß den Angeklagten Dippe eine sträfliche Fahrlässigkeit bei dem Unfall trifft, da auf seine spezielle Anordnung die Luken in der erwähnten Weise hergestellt sind und daß ihn als ………. hervorragenden Kunst- und Handelsgärtner und Landwirt eine höhere Verantwortlichkeit bein……….in seinem umfangreichen Betrieb notwendigerweise eine besondere Sachkunde und Umsicht gefordert werden muß.

Ebenso verhält es sich mit dem Mitangeklagten Palm, welcher ebenfalls Landwirt von Beruf von dem auswärts wohnenden Dippe als Verwalter und Leiter der Halberstädter Wirtschaft angestellt ist und an Stelle des Eigenthümers die nötigen Arbeiten anzuordnen, Leute anzustellen, kurz eine umfassende Befugnis in der Verwaltung des Anwesens hat, welche demzufolge auch die dementsprechenden Pflichten obliegen und der vor allem den Betrieb derart zu leiten hat, daß Menschenleben nicht gefährdet werden , sonach falls durch Mangel an Schutzvorrichtungen Menschenleben gefährdet werden solche Vorkehrungen anzubringen oder deren Anbringung bei dem Angeklagten zu 1. zu betreiben, und, falls und solange solche Vorkehrungen nicht getroffen sind, soweit den Betrieb einzustellen hatte.

Trotzdem nun der Angeklagte zu 2. von der Anlage und dem Vorhandensein der Luken wußte, hat er nichts von Alldem gethan. Nach Entsch. des Reichsgerichts (I Str.S. Urtheil vom 5. Dezember 1886) hätte ihn sogar selbst ein Verbot des Angeklagten zu 1 zur Herstellung von Schutzvorrichtungen nicht von der Verantwortung für die aus dem Betrieb des seiner Leitung mitunterstellten Etablissements ohne Schutzvorrichtung erwachsende, von ihm voraussehbare Gefährdung von Menschenleben entbinden können.

Beweismittel sind:

I Geständnis

  1. der Angeklagte zu 1 (Blatt 16!22 flg)
  2. der Angeklagte zu 2 (Blatt 9 ! 10,17, 17!)

II Zeugniss

  1. der Minna Duderstadt, hier Berkenstr. 13
  2. der Bertha Ilse hier, Seidenbautal 19

III das Gutachten (Zeugniss)

  1. des königlichen Gewerbeinspectors Ernst Henzels, hier
  2. des Sanitätsraths Dr. Finke,

IV das Protokoll über die Einnahme des Augenscheins vom 21. October 1893

Bl.4.act.

Es wird beantragt,

die Verhandlung und Entscheidung der Sache vor der Strafkammer des hiesigen königlichen Landgerichts stattfinden zu lassen

Halberstadt, den 26. Februar 1894

Der erste Staatsanwalt

Gez. Schoene

An das königliche Landgericht, Strafkammer,

hier

Im folgenden Beschluss wurden der Antrag auf die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt.

Beschluß

Der Antrag der königlichen Staatsanwaltschaft auf Eröffnung des Hauptverfahrens gegen

  • Den Kunst- und Handelsgärtner Fritz Dippe zu Quedlinburg,
  • Den Ökonomie-Inspektor Christian Palm zu Halberstadt,

welche angeklagt werden: und zwar jeder von Beiden im Dezember 1893 zu Halberstadt

  1. An den Orten, an welchen Menschen verkehren, Öffnungen dergestalt unverdeckt gelassen zu haben, daß daraus Gefahr für Andere entstehen konnte.
  2. Durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht zu haben und zwar, in dem sie die Aufmerksamkeit, zu der sie vermöge ihres Berufes besonders verpflichtet waren, aus den Augen setzten

Vergehen bzw. Übertretung gegen §§ 222,367-77, Strafgesetzbuch wird hiermit abgelehnt und zwar aus folgenden Gründen.

I. Die Gutachter der Sachverständigen

a, des königlichen Gewerbeinspektors Ernst Menzel, hier

b, des königlichen Gewerbeinspektors Hirsch in Magdeburg

Erschienen dem Gerichte nicht beweiskräftig, da beide nur auf industriellem Gebiete Sachverständige sind, während es sich in dem vorliegenden Falle um einen landwirtschaftlichen Betrieb handelt.

Auch konnte sich das Gericht der Auffassung des Sachverständigen Hirsch nicht anschließen, daß aus der Größe der Dippe‘schen Betriebe der industrielle Charakter derselben folge. Dagegen sah das Gericht durch weitere Beweisaufnahme insbesondere durch das Gutachten des landwirtschaftlichen Sachverständigen Amtsraths Heydemann als erwiesen erachtet,

daß bei allen landwirtschaftlichen Betrieben der Umgegend, insbesondere auch auf den königlichen Domänen und dem städtischen Schäfereigrundstücke Luken der fraglichen Art ohne besondere Schutzvorrichtungen in Gebrauch sind,

daß ferner die Land- und Gartenwirtschaft der Gebrüder Dippe den landwirtschaftlichen Betrieben der hiesigen Gegend vollkommen gleichartig sind, also keinen industriellen Charakter trägt.

Das Gericht hat sich demnach nicht davon überzeugen können, daß hier der objektive Thatbestand einer Fahrlässigkeit im Sinne des § 222 königl. Strafgesetz vorliegt.

Es konnte daher von einer Prüfung, ob der subjektive Thatbestand vorhanden sei, völlig abgesehen werden

II. der Thatbestand des § 367 des Reichs- Strafgesetzes erschien dem Gerichte in keiner Weise vorzuliegen, da es sich hier um einen Unfall bei der Arbeit handelt und es der Natur der Sache nach völlig ausgeschlossen erscheint, eine Luke der fraglichen Art während der Arbeit verdeckt oder verwehrt zu halten.

         Halberstadt, den 21. Mai 1894

Königliches Landgericht, Strafkammer II

gez    von Berg            Kreyenberg                           Sachse

                                                                                        

Ausgefertigt

Halberstadt, den 26. Mai 1894

                                               Schröder

Gerichtsschreiber des königlichen Landgerichts

Ausfertigung

An den Kunst- und Handelsgärtner

Herrn

         Fritz Dippe

Z2Z52/93 Quedlinburg

Postzustellungsurkunde:

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